Gespräch mit der Kontemplationslehrerin und
Zen-Praktizierenden Regine Weiß
Du bietest im Zentrum Neuenzell Meditationskurse an. Was ist eigentlich Meditation?
In allen Weltregionen und in allen Weisheitstraditionen sind vielfältige Meditationsformen entstanden. Sie unterscheiden sich stark voneinander in ihren Ausdrucksformen und Übungswegen: denken wir z.B. an Yoga, den Tanz der Derwische, das Singen von Mantras, das Beten des Rosenkranzes. Meditation kann auch darin bestehen, über einen Text nachzusinnen oder ein Bild innerlich wirken zu lassen.
Die Gemeinsamkeit sehe ich darin, dass sich die Meditierenden einige Zeit aus dem Alltag herausnehmen und sich etwas Heilendem oder Religiösen zuwenden. Der Körper, Gedanken, Gefühle, die Sinne, Imagination und Assoziation wirken ganzheitlich zusammen.
Kannst Du über deinen Meditationsschwerpunkt Näheres sagen?
Meine Art der Meditation ist geprägt vom Zen und von der Kontemplation. Zen hat sich im Buddhismus Ostasiens entwickelt, Kontemplation im Christentum. Beide haben jedoch eine sehr ähnliche Übungspraxis: das Sitzen in der Stille, das Gehen in der Stille und – in den Retreats – auch das Arbeiten in der Stille.
Das Schweigen ist eine sehr tiefe Erfahrung: nicht alles auszusprechen, was einem in den Sinn kommt, sondern wirklich ganz bei sich zu bleiben. Diese Stille bewirkt eine hohe Konzentration und ein Loslassen von all den vielen Ablenkungen, die uns sonst beschäftigen.
Vor allem eröffnet sie ein tiefes Erleben der Frage: Wer bin ich wirklich?
Wenn wir still sitzen, können wir unseren Körper sehr fein wahrnehmen: Was geschieht gerade darin? Was spüre ich? Zunächst ist es oft die Atmung, die wir bemerken. Im Zen gilt das bewusste Begleiten des Atems als wichtiger Übungsweg für Meditations-Anfänger.
Sitzt man länger in der Stille, wird die Wahrnehmungsfähigkeit immer feiner.
So hört man zum Beispiel Geräusche, die sonst im Alltag untergehen: den Gesang eines Vogels, den Wind in den Bäumen, Musik aus dem Nachbarhaus, einen Rasenmäher in der Ferne. Gerade beim Hören ist es für den Meditierenden möglich zu beobachten, wie sofort das Ich reagiert: „Das ist ja schön!“ – „Das stört mich.“ – „Was ist das für eine Melodie?“ – „Muss der jetzt unbedingt mähen?“ Wir erleben, wie unser Ich ständig bewertet, ablehnt oder zustimmt.
Normalerweise identifizieren wir uns stark mit unserem Ich. In der stillen Meditation merken wir aber, dass es nichts Festes ist. Es verändert sich ständig: Mal mag es etwas, mal lehnt es ab. Mal träumt es, mal macht es Pläne oder verliert sich in Gedanken. Wir erfahren dadurch sowohl die Komplexität unseres Seins als auch seine ständige Veränderung.
Was bedeutet Kontemplation? Unterscheidet sie sich von der Zen-Meditation?
Kontemplation ist eng verbunden mit der christlichen Mystik, Zazen mit der mystischen Erfahrung der östlichen Weisheit. Beide sind Wege der Stille.
Mein Lehrer Williges Jäger war Benediktinerpater – und damit in der Kontemplation verwurzelt – und zugleich Zenmeister. Er hat seinen Schülern beide Bereiche nahegebracht. Nach seiner Auffassung unterscheiden sie sich nicht in ihrer Essenz, wohl aber in der Sprache und in einigen Übungsformen.
Zwei Beispiele zur Erklärung:
Bei Vorträgen und Rezitationen werden in Zen-Kursen buddhistische Begriffe und Texte verwendet, bei den Kontemplationskursen christliche. In einem Teil der Zen-Linien werden den Schülern Koans gegeben. Das sind kurze und rätselhafte Texte, die mit dem logischen Verstand nicht gelöst werden können. Sie beziehen sich häufig auf geschichtliche und religiöse Gestalten Asiens und des Buddhismus.
Die Essenz von Kontemplation und Zen ist das Loslassen der Identifikation mit dem Ich-Bereich. Dazu gehören Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Wertungen. Wir nehmen wahr, wie sie im Bewusstsein aufsteigen und wieder gehen, ohne dass wir sie festhalten. In der Übung des stillen Sitzens ist dieses Überschreiten des Ich-Bereichs möglich. Es öffnet sich der Raum des reinen Seins und der Erfahrung des Einsseins.
Im Zen gibt es ein schönes Bild für das Überschreiten des Ich-Bereichs: Wenn wir mit ihm das Universum erfassen wollen, ist es so, als ob wir den Himmel durch ein Schilfrohr betrachten – die Sicht ist verengt. Legen wir das Schilfrohr weg, eröffnet sich der klare und weite Blick.
Um einem Missverständnis zuvorzukommen: Im Zen und in der Kontemplation wird das Ich nicht abgewertet. Es ist kostbar und macht uns zu Menschen. Es ist für das Leben in der Welt unverzichtbar.
Menschen ohne stabiles Ich – etwa schwer psychisch Erkrankte oder von Demenz Betroffene – können den Alltag nicht mehr bewältigen.
Aber für die tiefe spirituelle Erfahrung ist die Identifikation mit dem Ich hinderlich. Zen wie auch Kontemplation wollen uns ermöglichen, unser wahres Wesen zu erfahren – jenseits des Ich.
Kannst Du eine konkrete Übung empfehlen, die auch für Anfänger geeignet ist?
Für den Einstieg empfehle ich: Suche Dir einen Ort, an dem Du nicht gestört wirst. Nimm Dir etwa 15 Minuten Zeit. Setze dich so, dass Du in dieser Zeit keine Schmerzen bekommst, also z.B. auf einen bequemen Stuhl.
Atme ein und aus in normaler Nasenatmung. Spüre deinen Atem, wie er kommt und geht, ohne daran etwas zu verändern. Nach einer Weile wirst Du bemerken, dass Du ihn in verschiedenen Bereichen des ganzen Körpers spürst. Du wirst ruhiger, der Atem wird langsamer.
Und Du wirst erfahren: Der Atem verbindet uns mit der Welt. Wir sind keine abgeschlossenen Wesen, sondern stehen durch das Atmen in Beziehung zur ganzen Schöpfung: So atmen wir Sauerstoff ein, den die Pflanzen hervorbringen, und Kohlendioxid aus, das sie für die Photosynthese brauchen.
Wir sind mit miteinander verbunden.
Die positiven Wirkungen nicht nur der Übung des bewussten Atmens, sondern insgesamt der Meditation sind wissenschaftlich nachgewiesen: Sie beruhigt den Körper, senkt den Blutdruck, reduziert Stresssymptome und verändert sogar die Verschaltung der Neuronen im peripheren und zentralen Nervensystem.
Schon Anfänger der Meditation erfahren eine heilende Wirkung. Wer sich lange darauf einlässt, erlebt darüber hinaus eine andere Weise, in der Welt da zu sein.
Meditation ist keine Abschottung von der Welt, sondern wirkt immer in den Alltag hinein. Sie lässt uns spüren, dass jeder von uns einzigartig ist und Gutes bewirken kann – im eigenen Umfeld und in der Welt.
Du hast auch eine therapeutische Ausbildung. Siehst Du einen Berührungspunkt zwischen Meditation und Therapie? Und wie war dein eigener Weg?
Ich habe die Zen-Meditation vor über 40 Jahren gefunden – oder sie mich. Häufig besuchte ich damals Kurse der Zen-Meisterin Joan Rieck. Zur gleichen Zeit begegnete ich Menschen aus Todtmoos-Rütte, wo Karlfried Graf Dürckheim und Maria Hippius wirkten und die Initiatische Therapie entwickelt hatten.
1989 ging ich selbst dorthin. Ich erlebte die Initiatische Therapie als eine ganzheitliche Therapieform, die die spirituelle, seelische, kreative und körperliche Seite unseres Menschseins berührt. Später absolvierte ich die Ausbildung darin – mit den Schwerpunkten geführtes Zeichnen und Leibarbeit.
Die Initiatische Therapie beruht auf mehreren Säulen: der Tiefenpsychologie nach C.G. Jung und Erich Neumann, der Zen-Meditation (täglich geübt, morgens und abends), der Leibarbeit, die Karlfried Graf Dürckheim entwickelt hat (sie versteht den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele) und dem Geführten Zeichnen, das von Maria Hippius stammt.
In späteren Zeiten beschäftigte ich mich intensiv mit der christlichen Mystik und besuchte viele Kurse von Pater Sebastian Painadath SJ und Pierre Stutz.
Außerdem nahm ich an einer einjährigen Schulung in Krisenintervention teil und arbeitete ehrenamtlich in diesem Bereich.
2011 entschloss ich mich zur Schülerschaft bei Pater Willigis Jäger. Drei Jahre mit zahlreichen Aufenthalten im Benediktushof und Kursen bei Willigis und seinen Nachfolgern (Zenmeister Alexander Poraj, Zenmeisterin Doris Zölls, Theologe Fernand Braun) folgten. 2014 ernannte mich Willigis zur Kontemplationslehrerin.
Nach seinem altersbedingten Rückzug wurde ich Schülerin von Doris Zölls und absolvierte eine 1-jährige Koanschulung beim Zenlehrer Herbert Bohr (Sonnenhof Holzinshaus). Ich bin sehr dankbar für den Reichtum an Wissen und Erfahrungen, den ich von diesen Lehrerinnen und Lehrern geschenkt bekommen habe.
Ich möchte ihn gerne weitergeben und biete daher im Zentrum Neuenzell Meditationskurse, Geführtes Zeichnen, Leibarbeit und das persönliche Gespräch an. Dabei ist mir wichtig: Wir sind nie nur die verletzten Teile aus Kindheit oder Trauma. Wir sind immer Ganzheit – Körper, Geist und Seele, getragen von einem spirituellen Hintergrund. In Therapie oder Begleitung geht es daher nicht nur um die Wunden, sondern auch um das Heile und das Heilige, das in uns allen da ist. Die Meditation stärkt diesen heilen und heilenden Bereich.
Das Gespräch führten Kathryn Hardtke und Andreas Götzinger

